Wien ist die morbideste Hauptstadt der Welt, ohne Zweifel. Die „letzten Gärten“, die Friedhöfe, gehören wie selbstverständlich zum Stadtleben. „Der Tod, das muss ein Wiener sein“, erklingt es in dem traurig schönen Lied von Georg Kreisler. Und wer in die Unterwelt der barocken Prachtstadt steigt, der will es glauben: Grüfte mit Mumien, ein Bestattungsmuseum, kuriose Friedhöfe und eine Bevölkerung, die immer noch von der „schönen Leich“ träumt. Wien ist morbid. Der Tod scheint sein guter Freund zu sein. Wien – die Stadt der „letzten Gärten“. Schaurig-schön.
Im November strömen die Wiener auf den Zentralfriedhof im 11. Bezirk in Simmering. In Massen besuchen sie die Ruhestätten ihrer Angehörigen im „Garten der Toten“. Eine „Gräberrallye“ in Volksfeststimmung: Kinder mit Luftballons und Zuckerwatte hüpfen vor den Grabsteinen, ältere Damen im Pelzmantel schleppen riesige Chrysanthemen-Gestecke heran.
Wiener Zentralfriedhof
Diese Grabseligkeit der Wiener zu beobachten, wäre allein schon ein Grund den Zentralfriedhof zu besuchen. Das ist Wien pur: Affinität zum Tod. Der will zelebriert sein. Die Bühne: Wiens größter Friedhof, der zugleich auch einer der weitläufigsten in Europa ist. 330.000 Grabstellen auf 2,5 Millionen Quadratmeter. Gigantisch.
Fast zur Nebensache geraten da die Berühmtheiten mit ihren Ehrengräbern: Brahms, Strauß, Beethoven oder der 1998 zu Grabe getragene Musiker Falco. Sein wie eine transparente CD geformtes Grab versinnbildlicht eine neuere Friedhofsästhetik. Zugleich wirkt sie im Post-CD-Zeitalter der Musik-Downloads auch schon wieder veraltet.
Wie im Privatgarten scheint heutzutage im „letzten Garten“ fast alles erlaubt zu sein, egal, ob es gefällt. Da kann auch das geliebte Auto auf dem Grabstein abgebildet sein. Nichtsdestotrotz, den Großen wird gerade in Wien auf ewig Ehre zuteil, wie schon der Schauspieler Helmut Qualtinger wusste: „In Wien musst erst sterben, damit sie dich hochleben lassen. Aber dann lebst lang.“
Trost im Gartencafé
Nach dem Ausflug in der Totenstadt treffen sich die Wiener im Familienkreis im nahe gelegenen Restaurant „Schloß Concordia“. Bei Kerzenlicht reicht die Kellnerin eine „tröstliche Kräutersuppe“, die auch beim Leichenschmaus üblich ist. Da entsteht im Raum ein losgelöstes Gefühl, wie ein Moment ohne Zeit. Die Uhr über dem Eingang ist stehen geblieben – auf fünf vor zwölf. Eine versteckte barocke Losung: Carpe diem! Lebe den Tag, solange die Uhr für dich noch tickt…
Kapuzinergruft
Die Zeit der Habsburger ist längst abgelaufen, dennoch sind sie in Wien immer noch präsent, auch durch ihren Totenkult. In der Kapuzinergruft stehen ihre Sarkophage fein säuberlich nebeneinander. „12 Kaiser, 17 Kaiserinnen, insgesamt 146 Personen ruhen hier“, zählt ein Pater vom Kapuzinerkloster im 1. Bezirk auf.
Am prunkvollsten thront die Grablege von Kaiserin Maria Theresia. Sie hatte den mächtigen Metallsarkophag schon Jahre vor ihrem Tod bis ins Detail geplant. Er ist verziert mit Schlachtszenen, Kanonen und Schwertern – spielten doch Kriege eine wichtige Rolle in ihrem Leben.
Wirkliches Besuchergedränge herrscht in diesem unterirdischen Totengarten nur an einem Grab, dem von „Sisi“. Chinesische Touristen fotografieren sich gegenseitig vor dem Sarkophag der österreichischen Kaiserin Elisabeth, die 1898 in Genf ermordet wurde. Tragik will Ewigkeit.
Herzogsgruft im Stephansdom
Am Stephansdom im Zentrum Wiens warten die Fiaker auf Kundschaft, um sie wie in alten Zeiten durch die Stadt zu kutschieren. Kaum einer der Gäste ahnt, dass sich unter den Hufen der Pferde eine Katakombenwelt mit vielen Grüften auftut. Es mutet schon etwas schaurig an, wenn Domführer Bernhard Erlach beim Gang durch diese Unterwelt erzählt, dass in der Herzogsgruft die inneren Organe der Habsburger in Spiritus eingelegt sind. Und da stehen sie im Regal, schmucklose, verlötete Kupferurnen, alle leicht verstaubt.
Die Herzen der Habsburger
„Bis 1878 war es Ritus bei den Habsburgern, die Körper der Toten dreizuteilen“, meint Erlach. „Die Eingeweide kamen in die Herzogsgruft, die Leiber in die Kapuzinergruft und ihre Herzen ins ‚Herzgrüftl’ in der Augustinerkirche.“ Und so weht noch immer eine gewisse Habsburgische Morbidität durch Wiens Gassen.
Gruft der Mumien
Wen das kalt lässt, der möge die steile Treppe hinab in die Michaeler Gruft steigen und dem Tod direkt ins Gesicht sehen. In bunt bemalten Holzsärgen liegen die „Luftgselchten“, wie der Wiener die luftgetrockneten Mumien nennt. Einige dieser Särge sind geöffnet. Da verstummen die Besucher, als sie auf eine Dame aus dem 18. Jahrhundert blicken: ein Skelett im Rüschenkleid mit Stöckelschuhen und einem Rosenkranz in den behandschuhten Händen. Oder sieht das bekleidete Knochengerüst die Besucher an? „Die Wiener sind eben a bisserl nekrophil“, meint der Gruft Führer Christopher Timmermann und schließt sich selbst wahrscheinlich nicht aus.
Wiener Bestattungsmuseum
Die „schöne Leich“ war in der Kaiserstadt Wien ein Muss. Manche haben für das herrschaftliche Begräbnisritual ein Leben lang gespart. Davon zeugen auch die historischen Ausstellungsexponate im Wiener Bestattungsmuseum, das sich seit 2014 am Wiener Zentralfriedhof befindet: mit Gold bestickte Sargtücher, wie Gala-Uniformen anmutende Trauer-Livreen des Konduktpersonals, Pferdegeschirre mit schwarzen Straußenfedern für den Leichenzug. Die Pracht der Trauer hat in Wien Tradition.
Im Museum sind auch Kuriositäten zu bestaunen, wie einen Rettungswecker, der bei Scheintod helfen sollte, ein mehrfach benutzbarer Klappsarg oder ein Stilett, das ebenfalls aus Angst vor dem Scheintod zum Herzstich verwendet wurde, wie zum Beispiel beim österreichischen Schriftsteller Arthur Schnitzler.
Totenschädel-Kollektion
Die dunkle Seite der Stadt zieht magisch an. Im Naturkundemuseum tapsen Besucher bei nächtlichen Führungen im Schein der Taschenlampe vorbei an einer Kollektion von Menschenschädeln und ausgestopften Wölfen, Bären, Katzen. Wien war um 1800 das Zentrum der Präparierkunst.
Schauriges Unterrichtsmaterial
Im Museum für die Geschichte der Medizin im Josephinum liegen in Vitrinen aus Rosenholz und venezianischem Glas auf Samt gebettete Wachsmodelle von Menschen und Körperteilen. In den 1780er Jahren in Florenz geschaffen, gaben sie unbekannte Einblicke in den menschlichen Körper. Der aufgeklärte Kaiser Joseph II. hatte sie eigens in Italien in Auftrag gegeben – als Anschauungsmaterial im Unterricht für die neugegründete Akademie in Wien. Heute wirken die Präparate, insgesamt etwa 1200 an der Zahl, leicht gruselig, aber zugleich auch aufklärerisch und ihrer Zeit weit voraus.
Friedhof der Namenlosen
So komfortabel hatten es die Toten vom „Friedhof der Namenlosen“ nicht. Ihnen wurde keine „schöne Leich“ zuteil, kein pompöses Begräbnis, noch nicht einmal die letzte Ruhe in geweihter Erde. „Bei uns liegen vor allem Selbstmörder und Verunglückte, welche die Donau wegen eines Wasserstrudels hier anspülte“, sagt Josef Fuchs jun.
Wie schon sein Vater und auch Großvater, betreut der Wiener ehrenamtlich den kleinen Friedhof im Hafen Albern am Stadtrand. Große Laubbäume umrahmen diesen „letzten Garten“ für die Namenlosen, Verzweifelten und Unglücklichen. Nur wenige Touristen verweilen vor den schmiedeeisernen Kreuzen mit dem Schild „namenlos“. Der Tod kann auch ganz still sein in Wien.
WAS IST NOCH GUT ZU WISSEN?
Bestattungsmuseum am Wiener Zentralfriedhof
Zur „Kunst der Bestattung“ zeigt das Museum die Sonderausstellung „Accessoire funéraire“ bis 18.3.2017. www.bestattungsmuseum.at
Wiener Zentralfriedhof
Simmeringer Hauptstr. 234, 1110 Wien. Besucher können einen Audio-Picture-Guide mit Informationen zu Gräbern und berühmten Verstorbenen ausleihen. www.friedhoefewien.at
Kaisergruft (Kapuzinergruft)
Tegetthoffstraße 2, 1010 Wien. An bestimmten Tagen gibt es Sonderführungen, bei der man die Gruft bei Kerzenschein erleben kann. www.kapuzinergruft.com
Herzgruft (Loretokapelle) in der Augustiner-Kirche
Augustinerstraße 3, 1010 Wien, Zugang der Gruft nur mit Führungen.
Josephinum
Sammlung der Medizinischen Universität Wien, Währinger Straße 25, 1090 Wien. www.meduniwien.ac.at/josephinum
Friedhof der Namenlosen
Alberner Hafenzufahrtsstraße, 1110 Wien
TIPP-SPEISEN: Concordia Schlössl, gegenüber vom Zentralfriedhof, www.concordia-schloessl.at/de
TIPP-VIDEO: „Coffins, graveyards & broken skulls“, also „Särge, Friedhöfe und Totenschädel“, heißt ein achtminütiger Film auf youtube (auf Englisch mit deutschen Untertiteln), der einige im vonREISENundGAERTEN-Beitrag erwähnten Orte in Wien zeigt: www.youtube.com
WEITERE INFOS ZUM REISEORT WIEN: www.wien.info